Shinrin Yoku kommt aus Japan und bedeutet so viel wie „in der Waldluft oder der Waldatmosphäre baden“. Damit verbunden sind Langsamkeit und Entschleunigung – in der aktuellen, rasanten Zeit etwas sehr Seltenes.
Es geht mit Achtsamkeit und dem Stimulieren aller Sinne einher – Sehen, Fühlen, Hören, Riechen, Schmecken und wirkt sich somit auf unser Empfinden, unsere Gefühle, unsere Stimmung aus. Diese Erfahrungen hat wohl schon jeder gemacht, der sich in der Natur bewegte. Dass das aber nicht nur ein Gefühl ist, wurde bereits seit den 1980 Jahren in Japan untersucht. Dem folgten weitere Studien und Experimente weltweit, vornehmlich aber in Japan. Die Ergebnisse zeigten, dass Waldbaden das Immunsystem durch Stimulation der Aktivität von natürlichen Killerzellen und von Antikrebs-Proteinen stärkt. Dass durch Waldbaden die Ausschüttung der Stresshormone Cortisol und Adrenalin reduziert werden, das sympathische Nervensystem („Kampf-Flucht-System“) runterreguliert und das parasympathische stimuliert wird („Ruhe und Erholung“, Reduktion des Blutdrucks und Verbesserung der Herzfrequenzvariabilität).
Daraus resultieren Effekte wie das Lindern von Ängsten, Depressionen und Wut sowie Stress. Entspannung und Steigerung des Leistungsvermögens werden herbeigeführt. Auslöser dieser Effekte sind Phytonzide. Das sind natürliche ätherische Öle der Bäume, die zur Abwehr von Schädlingen wie Bakterien, Insekten und Pilzen dienen. Ihre wichtigsten Bestandteile sind die Terpene. Diese können wir riechen. Neben den Terpenen spielen auch Mikroben eine Rolle, was für das weitverbreitete und harmlose Bacterium vaccae belegt werden konnte. Natürlich gehören auch die Ruhe des Waldes, die bessere Luftqualität mit reduzierten Luftschadstoffen und die Lichtverhältnisse zum Gesamtpaket des Shinrin Yoku.
Am AMEOS Klinikum Haldensleben wurde das Shinrin Yoku effektiv in das therapeutische Programm integriert. Waldbaden von einer Dauer von zwei Stunden und einer eigentlich sehr kurzen Wegstrecke – als Ausdruck der Ruhe, Langsamkeit und Entschleunigung – von ca. 2,5 Kilometern sind bereits effektiv. Eben diese Langsamkeit ist schon eine Herausforderung. Dabei gilt es die Sinne zu schärfen. Achtsamkeit ist hier angesagt, was unter therapeutischer Leitung geübt wird, z.B. dem Gesang der Vögel oder dem Rauschen des Windes zu lauschen, dem Licht und den Schatten zu folgen, die Düfte des Waldes zu riechen, den Boden oder Pflanzen berühren, u.s.w.. Dabei suchen wir nach Wohlfühlorten, ganz egal von welchen sinnlichen Eindrücken geleitet, und zwar jede*r Teilnehmer*in für sich. Dort an diesem Wohlfühlort zu verweilen ist eine der Übungen, die Natur auf sich einwirken zu lassen und von allem anderen loszulassen. An diese individuellen Wohlfühlorte können die Teilnehmer*innen später auch allein zurückkehren und sich entspannen unter Bäumen, auf einer Lichtung oder an einem der zahlreichen Hünengräber in der unmittelbaren und waldreichen Umgebung unseres Klinikums. Langsames Gehen im Wald ergänzt durch Yoga-Übungen oder Tai-Chi sowie Pflanzen- und Tierbeobachtungen oder auch Meditationsübungen gehören ebenfalls dazu. Shinrin Yoku ist zu jeder Tages- und Jahreszeit möglich und auch nahezu völlig wetterunabhängig. Die Wege sollten möglichst nur sanfte Steigungen haben und Raum bieten, also nicht zu schmal sein. Es sollte nicht zu dunkel sein, so dass das Spiel von Licht und Schatten verfolgt werden kann. Die Wege sollten abwechslungsreich sein, Wald, kleine Lichtungen, Wasser oder wie bei uns auch „felsig“ durch die großen Findlinge der Hünengräber.
Shinrin Yoku – Waldbaden - ist in Deutschland (noch) kein anerkanntes medizinisches Therapieverfahren. Entsprechend gibt es auch keine geschützte Bezeichnung für Waldtherapeuten oder „Waldbademeister“ – nichtsdestotrotz oder gerade darum ist es für uns eine Herausforderung gewesen, dieses Therapiekonzept in unser Behandlungsprogramm einzubauen.
Dr. med. Ulrich Sandmann
Chefarzt Psychiatrie