Wie therapeutisches Klettern psychisch Erkrankten helfen kann
Lange hatte sich Dr. Thomas Lukowski auf diesen Moment vorbereitet. Jetzt steht er im Flieger, kurz vor seinem ersten Fallschirmsprung. Mitte 20 ist er damals, sportlich, abenteuerlustig und vor allem schwindelfrei. Doch plötzlich wird der erwartbare Adrenalinkick von einem anderen Gefühl abgelöst, das sich mit Zittern, Hyperventilation und Herzrasen ankündigt: eine Panikattacke. Thomas Lukowski wagt an diesem Tag zwar den Sprung, jedoch muss er fortan mit einem unliebsamen Begleiter leben: der Höhenangst.
Zehn Jahre später steht Thomas Lukowski mit seiner Tochter in einer Münchner Kletterhalle. Der Eltern-Kind-Kletterkurs macht beiden Spaß, in drei Metern Höhe aber kommt die Panik zurück. Doch statt aufzugeben besinnt sich der Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie auf seine Profession und erkennt im Klettern ein vielversprechendes therapeutisches Mittel. Und so beginnt die Klettertherapie im Selbstversuch: Immer wieder nähert er sich der angstauslösenden Situation an, lernt, mit ihr umzugehen. Am Ende ist die Angststörung gut behandelt, im Selbstversuch. Und Dr. Lukowski beginnt, sich wissenschaftlich mit der Klettertherapie auseinanderzusetzen.
Die Wirkebenen des therapeutischen Kletterns
In seiner Münchner Praxis arbeitet Dr. Lukowski mit Menschen mit psychischen und psychosomatischen Erkrankungen, denen er je nach Indikation und Motivation anbietet, Klettern in den Verlauf der Psychotherapie einzubinden. Bevor es an die Wand geht, bereiten erste Aufwärm- und Boulderübungen den Patienten vor. Am Ende jeder Therapieeinheit steht ein Feedbackgespräch. „Für mich ist das therapeutische Klettern eine geradezu ideale therapeutische Sportart“, erklärt Dr. Lukowski „denn auf allen Ebenen können wir Effekte beobachten: neurobiologisch, physiologisch, psychologisch und sozial.“
Beim Klettern kommt es zu einer vermehrten bzw. verstärkt angetriggerten Ausschüttung von Neurotransmittern, die für unser emotionales Erleben, für Konzentration und Aufmerksamkeit wichtige Gehirnregionen beeinflussen und aktivieren: Serotonin, Dopamin, Noradrenalin/Adrenalin, Endorphine, Endocannabinoide und Nervenwachstumsfaktoren.
Klettern ist gelenkschonend und beansprucht alle Muskelgruppen. Physiologisch betrachtet ist es eine einzigartige Bewegungsform, da der Körper ständig in einer fließenden Bewegung ist. Dr. Lukowski geht so weit zu sagen, dass der Kletterbewegung an sich eine antidepressive Bedeutung innewohne: „Schon Kleinkinder klettern, sie ziehen sich überall hoch und wollen so ihren Horizont erweitern. Ein Mensch mit Depressionen verliert diesen Horizont, sein Blick richtet sich auf den Boden, er geht gebückt und mit eingezogenem Kopf. Allein schon die Bewegungsform lässt ihn sich wieder aufrichten, die Schultern straffen und den Kopf heben.“
Auf der psychologischen Ebene lässt sich eine Spiegelung der störungsspezifischen Symptome an der Wand beobachten. Angst spielt dabei die größte Rolle, wie Dr. Lukowski erklärt: „Es gibt natürlich individuelle Unterschiede, aber ab einer gewissen Höhe bekommt es jeder Kletterer mit der Angst zu tun. Je höher ich steige, desto dünner wird sozusagen das Seil.“ Im Unterschied zum Alltag tritt die angstmachende Situation aber in einem absolut gesicherten Rahmen auf – Therapeut und Seil sichern den Patienten zu jeder Zeit. Somit ist es möglich, dass der Patient die angstbehaftete Situation an der Wand erproben und letztendlich einen Transfer in seine Lebenswelt schaffen kann. Dr. Lukowski ergänzt: „Der Patient erlebt an der Wand eine große Bandbreite an Herausforderungen. Das sind genau die Symptome, die auch bei seiner Erkrankung auftreten, wie z. B. Angst und Derealisierung bei depressiven Menschen. Geschützt durch das Seil und begleitet vom Therapeuten kann er in der Situation zur Ruhe kommen und den Umgang damit üben. Der Transfer in den Alltag gelingt den meisten Patienten bereits nach wenigen Einheiten.“
Das Klettern wirkt sich auch auf der sozialen Ebene aus. Vor allem psychisch belastete Menschen haben sich oft sozial zurückgezogen. Durch das Gefühl, etwas geschafft zu haben, bekommt das Selbstbewusstsein einen enormen Schub. Hinzu kommt, dass therapeutisches Klettern auch in Gruppen stattfindet und sich die Patienten gegenseitig motivieren. Dies ist vor allem im klinischen Setting der Fall.
Klettertherapie im klinischen Bereich
Dr. Thomas Lukowski ist einer der Pioniere auf dem Gebiet der Klettertherapie im deutschsprachigen Raum. Mittlerweile werden immer mehr Gesundheitseinrichtungen auf die heilsame Wirkung auf Körper und Geist aufmerksam und nehmen Klettertherapie in ihr Repertoire auf. So auch die AMEOS Klinika in Simbach am Inn. Hier bildet Dr. Lukowski regelmäßig neue Klettertherapeuten aus und hat dafür ein mehrtägiges Kurskonzept erarbeitet. Eine der Absolventen ist die Gesundheits- und Krankenpflegerin Frau Hildegard Christl, die seit sieben Jahren die Klettertherapie in der Fachklinik für Psychosomatische Medizin und Psychotherapie leitet: „Für mich ist es immer wieder eine spannende Erfahrung, was die Kletterwand für die einzelnen Patienten bedeutet. Für manche hat sie einen hohen Aufforderungscharakter, sodass sie mehr Motivation aufbringen als bei anderen therapeutischen Angeboten.“ Andere Patienten seien hingegen von der imposanten Wand eingeschüchtert und bräuchten erst viele vertrauensbildende und auflockernde Aufwärmübungen am Boden. „Für wieder andere Patienten fängt die Wand quasi schon im Bus auf dem Weg zur Kletterhalle an. Die Neugierde ist da, aber die Angst zu scheitern oder die psychosomatischen Schmerzen stellen sich bereits in den Weg.“ Dann sei es wichtig, keinen Druck aufzubauen, sondern jeden in seiner Komfortzone langsam warm werden zu lassen. Oder wie Dr. Lukowski zugespitzt formuliert: „Niemand kann geklettert werden.“ Frau Christl beobachtet in der Kletterhalle immer wieder die Unterschiede zwischen Frauen und Männern: „Frauen möchten häufig das „Gewicht“ abgeben und fühlen sich wohl, wenn sie sich ins Seil setzen können. Das Gefühl des „Getragenwerdens“ kann Geborgenheit und Sicherheit geben. Männer sind hingegen häufig leistungsorientierter.“ Auch Dr. Lukowski bestätigt die Unterschiede zwischen den Geschlechtern: „Es mag plakativ klingen, aber in der Regel neigen Frauen dazu, sich zu unterschätzen. Und Männer überschätzen sich eher. Der Klettertherapeut muss in diesem Fall gute Antennen haben und gar nicht erst zulassen, dass sich der Patient aus Leistungsdruck überfordert.“ Frau Christl, die den Kurs bei Dr. Lukowski 2013 in Simbach am Inn absolviert hat, schiebt in solchen Fällen eine simple Übung ein: „Diese Patienten lassen wir blind klettern, denn durch die Augenbinde nehmen wir die Schnelligkeit und das Leistungsdenken weg. Der Patient ist ganz darauf zurückgeworfen, achtsam seine Umgebung zu erspüren und seine Schritte bedacht zu wählen.“
Parabel aufs Leben
Klettern wirkt – und das auf vielen Ebenen. Dr. Lukowski und Frau Christl sind sich einig in dem Wunsch, dass diese hocheffektive Therapieform weiter Verbreitung findet. „Auch bei der Eltern-Kind-Behandlung kann hier viel erreicht werden.“, weiß Dr. Lukowski. Bindung, Vertrauen, Loslassen-können: Vieles, was an der Wand geübt wird, kann auch wieder im Alltag gelingen. „Es ist wie im Leben“, fasst Frau Christl zusammen. „man muss den sicheren Halt erst verlassen, damit es weitergeht.“
Zur Person
Dr. Thomas Lukowski ist Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie (VT/TP) sowie Trainer (C) im Sportklettern (DOSB/DAV) und Arzt im Rettungsdienst (BLÄK). Zu seinen Zusatzqualifikationen gehören die Suchtmedizin und die Berg- und Höhenmedizin. Thomas Lukowski lebt und arbeitet in München.
Wissenswertes zur Klettertherapie und Termine zu den Ausbildungskursen finden Sie online unter www.dr-lukowski.de oder auf unseren Seiten.